Polens Problem mit der Grenze
Wie die Regierung auf die Situation an der Grenze zu Belarus reagiert und welche Rolle die Innenpolitik dabei spielt
Die Lage an der belarussisch-polnischen Grenze spitzt sich weiter zu. Der polnische Verteidigungsminister versetzt den Grenzschutz in Alarmbereitschaft, als sich eine größere Gruppe von Migranten in Richtung Polen bewegt. Die Geflüchteten versuchen, den Grenzzaun zu stürmen, die Soldaten setzen Tränengas ein.
Wie ist die Lage vor Ort?
Seitdem die polnische Regierung Anfang September am Grenzgebiet zu Belarus den Ausnahmezustand erklärt hat, dürfen sich dort weder Journalisten noch Aktivisten aufhalten. Aus diesem Grund ist es schwierig geworden, verlässliche Informationen über die dortige Situation zu bekommen. Am Montagmorgen sorgte eine Videoaufnahme des Lukaschenko-kritischen Kanals „Nexta“ für helle Aufregung in polnischen Medien und bei der Politik: Sie zeigte eine große Gruppe von Migranten, die auf einer belarussischen Autobahn in einer langen Schnur, ausgestattet mit Zelten und Rucksäcken, Richtung Grenzübergang marschieren.
Das polnische Verteidigungsministerium postete daraufhin eine Drohnenaufnahme, auf dem die Migranten auf der belarussischen Seite am Grenzzaun in der Nähe der polnischen Stadt Kuźnica zu sehen sind. Ob es sich um dieselben Menschen handelt, ist unklar – die polnischen Behörden haben dort bereits in den vergangenen Tagen immer mehr Flüchtlinge gesichtet.
Ein Ministeriumssprecher sagte am Mittag, dass einige Migranten vom Grenzschutz an einer Überquerung der Grenze gehindert worden seien. In den vergangenen Wochen warfen Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International der polnischen Seite vor, das Völkerrecht zu missachten, es soll zu sogenannten Pushbacks gekommen sein, nachdem die Geflüchteten bereits das polnische Territorium erreicht hätten.
Offenbar werden die Flüchtenden – nicht erst seit heute – von bewaffneten belarussischen Kräften mit Gewalt zum Überqueren der Grenze gedrängt. Auch Polens Verteidigungsministerium verweist auf die aktive Hilfe der belarussischen Soldaten.
Das linke polnische Online-Portal Oko.press berichtet allerdings unter Berufung auf eigene Quellen, dass die Aktion vom Montag von den Migranten selbst initiiert worden sei – aus Protest der Behandlung, die sie seit ihrer Ankunft erfahren. Es soll sich um bis zu 5000 Migranten handeln, die sich von mehreren belarussischen Städten aus in Bewegung gesetzt hätten und mithilfe belarussischer Soldaten in Grenznähe gebracht worden seien.
Wie reagiert die polnische Regierung?
Polens Regierung ist überzeugt davon, die EU-Außengrenze vor illegalen Grenzübertritten schützen zu müssen. „Wir beobachten die Lage in Kuźnica seit ein paar Tagen und sind auf jedes Szenario vorbereitet. Die entschiedene Verteidigung der Grenze ist unsere Priorität. Wir haben die Anzahl der Grenzschützer, Polizisten und Soldaten erhöht. Wir warten in voller Bereitschaft“, teilte Polens Innenminister Mariusz Kamiński am Montagvormittag mit. Nach Angaben von Verteidigungsminister Mariusz Błaszczak handelt es sich um rund 12.000 Kräfte.
Was sind die innenpolitischen Konsequenzen?
Premierminister Mateusz Morawiecki benutzte am Morgen bei seinem Statement auf den sozialen Netzwerken eine für ihn nicht unübliche Kriegsrhetorik: „Die Grenze des polnischen Staates ist nicht nur eine Linie auf der Karte. Diese Grenze ist ein Heiligtum. [Hervorhebung im Original]. Angesichts der Gefahr sollte der Grenzschutz etwas absolut Selbstverständliches sein und auf einem Konsens aller politischen Kräfte gestützt sein.“
Hier stimmt der nationalkonservative Politiker nicht nur eine patriotische Note an, sondern setzt auch innenpolitisch die Opposition unter Druck, die sich in der Vergangenheit mehr oder weniger stark für eine Aufnahme von Flüchtlingen eingesetzt hat.
Die Flüchtlingskrise war im Wahljahr 2015 eines der am heftigsten diskutierten Themen im Wahlkampf und wird neben der Sozialpolitik als einer der wichtigsten Faktoren für den Wahlerfolg der Nationalkonservativen und den damit verbundenen Regierungswechsel bezeichnet. Während sich die damalige liberal-konservative Regierung von Premierministerin Ewa Kopacz von der Partei PO (Platforma Obywatelska, PO) für eine Aufnahme von rund 7.000 Flüchtlingen im Zuge der Aufteilung gemäß des von der EU vereinbarten Schlüssels verpflichtete, war die damalige nationalkonservative Opposition strikt dagegen.
Der Abgeordnete Zbigniew Girzyński, zu jenem Zeitpunkt parteilos, bis Dezember 2014 Mitglied der heutigen Regierungspartei PiS, sagte bei einer Parlamentsdebatte „Polen war deswegen stark, weil es tolerant war, aber auch deswegen, weil sie solche Herrscher wie Johann III. Sobieski hatte, die Grenzgebiete der Republik verteidigten und wenn es nötig war, verteidigten sie Polen auch weit hinter ihren Grenzen, um die mit der Expansion anderer Kulturen einhergehende Gefahren von unseren Grenzen fernzuhalten.”
König Johann III. Sobieski (1674-1696) ist im historischen Gedächtnis der Polen positiv verankert. Er wird durch die Befreiung der Stadt Wien als Oberbefehlshaber aus der Belagerung durch die Osmanen im Jahr 1683 als „Retter Europas“ gefeiert, die Idee Polens als „Antemurale Christianitatis“ ist bis heute Teil der nationalen Identität.
Heute ist die oppositionelle PO in der Flüchtlingsthematik zurückhaltender. Die Parteiführung um den Vorsitzenden Donald Tusk ist sich dessen bewusst, dass eine zu liberale Haltung in dieser Frage Zustimmungswerte kosten würde. Aussagen wie die von Morawiecki setzen die Liberal-Konservativen zusätzlich unter Druck: Sie müsste sich gegen den fabulierten Vorwurf der Regierenden wehren, die Opfer Polens in der Geschichte nicht gebührend zu ehren und die Sicherheit des Landes zu gefährden.
Aus den Reihen der aktuell im Parlament vertretenden Parteien setzt sich nur die Linke konsequent dafür ein, den im belarussisch-polnischen Grenzgebiet gestrandeten Migranten, zu helfen. Mehrere Abgeordnete versuchten vor der Ausrufung des Ausnahmezustands, die Geflüchteten mit Nahrung und Kleidung zu versorgen. Dies scheiterte zumeist am Widerstand der polnischen Grenzschützer.



Wie lässt sich die Situation lösen?
Die EU spricht im Zusammenhang mit der Situation an der belarussisch-polnischen Grenze von “hybriden Angriffen“ des belarussischen Staates. Die belarussische Regierung offenbar gezielt Menschen aus Nahost einfliegen, um sie anschließend in die EU einzuschleusen. Damit übt er politischen Druck aus auf die Union aus, die das Land nach mutmaßlichen Wahlfälschungen und Verhaftungen von Oppositionellen mit Sanktionen belegte. Mehrere Tausend Migranten, für die Polen meist nur Zwischenstation ist, haben über die Belarus-Route bereits das deutsche Territorium erreicht.
„Das ist eine künstliche Krise, das ist keine Migrationskrise, wie wir sie in der Vergangenheit erlebt haben“, sagte die litauische konservative Europaabgeordnete Rasa Juknevičienė am Montag bei einer Online-Debatte des Thinktanks ECFR Warsaw und der Batory-Stiftung. „Wir haben es hier mit einer autoritären Diktatur zu tun, die diese Krise herbeigeführt hat, die Menschen wie Gegenstände, wie Waffen benutzt.“
Der frühere sozialdemokratische Außenminister Polens, Włodzimierz Cimoszewicz forderte wiederum, noch mehr Druck auf Belarus auszuüben. “Ich glaube, dass die Europäische Union von Ländern wie Polen oder Litauen davon überzeugt werden sollte, dass wir entschiedene Handlungen und Sanktionen brauchen, darunter auch ökonomische, die den belarussischen Export treffen.“ Hier habe die polnische Regierung noch nicht genügend unternommen. Sie solle auch die angebotene Hilfe der Europäischen Grenzschutzagentur Frontex annehmen. Warum das nicht geschehen sei? „Sie hätte die Rolle des Verteidigers Polens verloren“, meint Cimoszewicz.




